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Handlungsempfehlungen

Handlungsempfehlungen des Forschungsprojekts „Systemcheck“ des Bundesverbands Freie Darstellende Künste e. V.

Die hier vorgestellten Handlungsempfehlungen sind ausschließlich aus dem „Systemcheck“-Forschungskorpus abgeleitet. Vorschläge zur Umsetzung oder Finanzierung sind nicht Teil der Handlungsempfehlungen.

Die Handlungsempfehlungen richten sich an Politik und Verwaltung von Bund, Land und Kommunen. Sie dienen aber auch den Akteur*innen und ihren Vertretungsstrukturen als Policy Paper für weitere politische Arbeit zur Verbesserung der sozialen Lage.

Die Handlungsempfehlungen sind entlang von sieben aus der Forschung identifizierten Kernthemen strukturiert. Eine Umsetzung dieser Handlungsempfehlungen trägt im Einzelnen aber insbesondere im Ganzen zu einer gleichberechtigteren sozialen Absicherung für Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten und darüber hinaus bei. Sie sind im Geiste der im Grundgesetz verankerten Grundrechte, z. B. Kunstfreiheit, freie Entfaltung, Gleichberechtigung, formuliert.

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Titelblatt der Handlungsempfehlungen des Forschungsprojekts "Systemcheck"

Hauptansatzpunkte

Strukturelle Ursache für die prekäre soziale Lage der Akteur*innen in den darstellenden Künsten sind die sehr geringen Einkommen. Unflexible oder nicht passgenaue Sozialversicherungssysteme machen eine lückenlose Versicherung („Durchversicherung“) unmöglich. Besonders in der seriellen Hybriderwerbstätigkeit, bei der die Akteur*innen regelmäßig zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung hin und her wechseln, entstehen viele belastende bürokratische Hürden und soziale Absicherungslücken. Deren Bewältigung obliegt dem Individuum und steht nicht im Verhältnis zu den zu erwartenden Versicherungsleistungen. Übergeordnete Ziele der hier formulierten Handlungsempfehlungen sind demnach höhere Einkommen und die Ermöglichung der Durchversicherung in allen notwendigen Sozialversicherungen. Da für ein Großteil der Akteur*innen die Einkommen aus der öffentlichen Förderung stammen, kommt den gesetzgebenden Instanzen eine große Verantwortung zu.

Besonders dringender Handlungsbedarf besteht bei der Altersvorsorge: Langjährige Erwerbsbiografien enden in den darstellenden Künsten aktuell häufig in Altersarmut.

Trotz UN-Behindertenrechtskonvention und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gibt es nach wie vor zahlreiche Barrieren, die den Zugang zu Sicherungssystemen und Förderprogrammen erschweren bis verunmöglichen. Mit den folgenden Handlungsempfehlungen ist daher auch das Ziel verbunden, diese Barrieren abzubauen, um den Zugang zu Versicherungen und Fördergeldern barriere- und diskriminierungsfrei zu ermöglichen. Dies umfasst Informationsmaterial, Förderanträge und die Schulung sowohl von Akteur*innen als auch von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen in Behörden hinsichtlich Antidiskriminierung.

Schulung und Qualifizierung sind auch in Hinblick auf Verständnis und Wissen über die Arbeitsrealitäten und -rechte von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen erforderlich – aufseiten von Versicherungsträgern und Behörden, der Gesetzgebenden und aufseiten der Akteur*innen selbst.

Einkommen erhöhen

Die Einkommen von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten müssen signifikant erhöht werden. Die Erhöhung muss zudem Ausfallhonorare bei Krankheit umfassen, alle Arbeitsphasen berücksichtigen (Vor- und Nacharbeit in Projekten und die Aufrechterhaltung der künstlerischen Fähigkeiten) und Anstellungsverhältnisse unterstützen. Ein angemessenes Einkommen ist Grundlage für eine hinreichende soziale Absicherung, v. a. im Alter.

1. Einkommenssituation umfassend verbessern

Wir empfehlen den Kulturverwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen, die Vergaberegeln für die Kulturförderung so anzupassen, dass verbindliche soziale Standards und transparente Vergütungskriterien orientiert am TVöD für Erwerbstätige in geförderten Organisationen, Institutionen und Projekten Fördervoraussetzung sind.

Künstlersozialkasse erweitern

In den darstellenden Künsten ist die Abgrenzung von künstlerischen und nichtkünstlerischen Tätigkeiten fließend. Außerdem gehört hybride Arbeit zur Erwerbsrealität in den darstellenden Künsten, die für die Akteur*innen zu struktureller Diskriminierung in den Sozialversicherungen führt. Um eine lückenlose soziale Absicherung für Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten gleichermaßen zu erreichen, muss diese Arbeitsrealität auch im Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) anerkannt werden.

2. Personellen Anwendungsbereich im KSVG ausweiten

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, durch eine Änderung des KSVG den personellen Anwendungsbereich der Künstlersozialkasse (KSK) auf Personen mit kreativ-organisatorischen, kreativ-technischen und künstlerisch-vermittelnden Tätigkeiten in den darstellenden Künsten auszuweiten und alle Honorare aus diesen Tätigkeiten anzurechnen.

3. Hybriderwerbstätige im KSVG anerkennen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, durch eine Änderung des KSVG, alle Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten in der KSK zu versichern, wann immer sie nicht abhängig beschäftigt sind – unabhängig von der Dauer der Anstellung und der Höhe ihres Einkommens aus abhängiger Beschäftigung.

Altersarmut abwenden

Für viele Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten werden erhöhte und verstetigte Einkommen zu spät kommen, um noch eine auskömmliche Rente zu erzielen. Die Arbeit von Personen, die ein ganzes Erwerbsleben in den darstellenden Künsten verbracht haben, muss gewürdigt werden.

4. Härtefallfonds gegen Altersarmut einrichten

Wir empfehlen den Gesetzgebenden die Einrichtung eines „Härtefallfonds“ zur Abmilderung von Altersarmut in den darstellenden Künsten.

Berufsständisches Versorgungswerk einführen

Für Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige gibt es bisher keine funktionierende Versorgungskammer für zusätzliche Absicherung im Alter, bei Berufsunfähigkeit und im Todesfall, wie sie für angestellte in vielen Bereichen in Kunst und Kultur eingerichtet wurde. Es braucht eine Versorgungskammer, die auf die Spezifika von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten ausgerichtet ist.

5. Versorgungskammer gründen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden die Schaffung einer neuen Versorgungskammer als freiwillige Versicherung innerhalb der KSK.

Erwerbslosigkeit absichern

Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten müssen in unverschuldeten erwerbslosen Phasen eine form der Absicherung erhalten können, die es ihnen ermöglicht, weiterhin in den darstellenden Künsten zu arbeiten.

6. Anpassung des Zugangs zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, die Zugangsvoraussetzungen zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Solo-Selbstständige, die nie einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sind, ohne Anmeldefrist zu ermöglichen und einen wiederholten Bezug von Arbeitslosengeld zuzulassen.

7. Durchversicherung für Hybriderwerbstätige

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, bei Hybriderwerbsarbeit dafür zu sorgen, dass es zu einer Summierung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung und der Pflichtbeiträge aus der Arbeitslosenversicherung kommt.

8. Absicherung bei atypischen Einkommensausfällen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden die Einrichtung einer Absicherung gegen atypische Einkommensausfälle als eigenständige, verpflichtende Säule in der Künstlersozialversicherung. Der Leistungsbezug soll äquivalent zu den Regelungen des Kurzarbeitergelds greifen.

Hinweis: Ein atypischer Einkommensausfall lieg z. B. dann vor, wenn temporär nicht die Möglichkeit der wirtschaftlichen Verwertung von Kunst besteht, wie z. B. während der Corona-Pandemie, als keine Aufführungen stattfinden konnten. Eine solche Situation ist mit der von Beschäftigten in Kurzarbeit vergleichbar. Atypische Einkommensausfälle unterscheiden sich von typischen, wenn z. B. in einem Monat keine Rechnungen beglichen werden (Landtag Nordrhein-Westfalen, 2023, S. 19 f.).

Gesetzliche Unfallversicherung in die KSK aufnehmen

Vielen Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen fehlt ein ausreichender Schutz in der gesetzlichen Unfallversicherung und damit eine angemessene Absicherung im Falle eines Unfalls in Hinblick auf Prävention, Rehabilitation und Entschädigung. Es braucht eine gesicherte Regelung für dieses Risiko, das sie eigenständig nicht tragen können.

9. Vor, während und nach Unfällen unterstützen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden die Einführung der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung für alle, die in der KSK pflichtversichert sind.

Gebärende und Erziehungsberechtigte absichern

Die aktuellen Regelungen für den Schutz von Gebärenden („Mutterschutz“) und die Unterstützung für Erziehungsberechtigte („Elterngeld“) sind für die Arbeitsrealitäten von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten nicht ausreichend. Bezahlter Mutterschutz muss eine Standardleistung für alle Gebärenden sein und beim Elterngeld muss der Bemessungszeitraum zur Ermittlung von Einkommen ausgeweitet werden.

10. Bemessungszeitraum für das Elterngeld

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, Elterngeldempfänger*innen die Wahlfreiheit zwischen folgenden Optionen zuzusprechen: Für die Berechnung des Bemessungszeitraums gilt entweder das letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor Geburt des Kindes oder alternativ das letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor Beginn der Schwangerschaft.

11. Garantierte Unterstützung für Gebärende

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, die Leistungen für Gebärende sechs Wochen vor und acht bis zwölf Wochen nach der Geburt (Mutterschaftsgeld) als Standardleistung ohne Zusatzversicherung in die gesetzlichen Krankenkassen zu integrieren. Die Leistung soll 100 Prozent des Einkommens des Vorjahres für 14 Wochen betragen.

Über diese Handlungsempfehlungen hinaus wurden noch folgende Handlungsoptionen identifiziert:

Kinderbetreuungskosten förderfähig machen

Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten profitieren oftmals nicht von öffentlicher Kinderbetreuung, da sie nicht auf ihre Arbeitszeiten ausgerichtet ist. Zusätzlich anfallende Kosten, die aufgewendet werden, um eine Tätigkeit in den darstellenden Künsten auszuführen, dürfen nicht privat getragen werden müssen.

12. Familienvereinbarkeit ermöglichen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, alle Kosten für die Kinderbetreuung (z. B. Babysitter*innen, Anreise und Unterkunft für Betreuungspersonen während der Arbeitszeit auf Gastspielreise) förderfähig zu machen und im Vergaberecht festhalten.

Barrieren abschaffen

Trotz UN-Behindertenrechtskonvention und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gibt es nach wie vor zahlreiche Barrieren, die den Zugang zu Sicherungssystemen und zu Förderprogrammen erschweren bis verunmöglichen. Ein barriere- und diskriminierungsfreier Zugang muss für alle Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten umgesetzt werden.

13. Barriere- und diskriminierungsfreie Informationen und Beratung

Wir empfehlen Sozialversicherungsträgern und Behörden, Informationen und Beratungen für den Abschluss aller freiwilligen und gesetzlichen Versicherungen und für einen rechtssicheren Arbeitsstatus barriere- und diskriminierungsfrei zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört: die Bereitstellung neben Deutsch auf Englisch, in Einfacher Sprache und in Deutscher Gebärdensprache, die Gewährleistung gendersensibler Sprache und die entsprechende regelmäßige Schulung von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen.

14. Barrierefreie Antragsmöglichkeiten

Wir empfehlen den Kulturverwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen, für alle Förderprogramme alternative Antragsmöglichkeiten anzubieten. Dafür sollten andere als die schriftliche Antragsstellung ermöglicht und Zugangsbarrieren abgebaut werden. Für die Erarbeitung weiterer alternativer barriere- und diskriminierungsfreier Antragsmöglichkeiten soll ein bezahltes Expert*innengremium eingerichtet werden.

15. Diskriminierungsfreie Algorithmen

Wir empfehlen den Sozialversicherungsträgern und Behörden die Algorithmen ihrer Softwaresysteme auf Diskriminierung zu überprüfen.

Qualifizierung erweitern

Um Zugangsvoraussetzungen für Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige in den darstellenden Künsten konsequent umsetzten zu können, benötigt es Qualifizierung aufseiten der Versicherungsträger und Behörden, der Gesetzgebenden und der Akteur*innen selbst. Nur wenn Verständnis und Wissen über die Arbeitsrealitäten und -rechte von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen in den darstellenden Künsten vorhanden ist, können Verbesserungen in Angriff genommen und durchgeführt werden.

16. Qualifizierung bei Versicherungsträgern und Behörden

Wir empfehlen Versicherungsträgern und Behörden, die verpflichtende Qualifizierung von Personal hinsichtlich Erwerbsverläufen von Solo-Selbstständigen und Hybriderwerbstätigen und Diskriminierungsdimensionen auszuweiten.

17. Qualifizierung von Akteur*innen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, weitere Informationsangebote zu branchenspezifischen sozial-, arbeits-, und steuerrechtlichen Fragen auf Deutsch, Englisch, in Einfacher Sprache und Deutscher Gebärdensprache zu entwickeln und bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit aushändigen zu lassen.

18. Weiterbildung und Transition für Akteur*innen

Wir empfehlen den Gesetzgebenden, Förderprogramme für Solo-Selbstständige und Hybriderwerbstätige zur berufsspezifischen und -übergreifenden Qualifizierung, zur Weiterbildung innerhalb einer aktuellen Tätigkeit und für die Transition in andere Tätigkeiten und Berufe auszubauen.